30 Schüler des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums in Gießen haben am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teilgenommen. Acht von ihnen erhalten nun eine besondere Auszeichnung.
Gießen. Stolz blickt Annette Pfannmüller, Direktorin des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums (LLG), auf den wuseligen Haufen von 30 Schülern, die sich allmählich auf ihrem Schulhof zu einem Gruppenfoto formieren. »Es sind ganz außergewöhnliche Schüler, die den Wettbewerb mit tollen Projekten bereichert haben«, sagt sie und meint damit den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, der seit 1973 jährlich von der Körber-Stiftung unter der Schirmherrschaft des jeweiligen Staatsoberhauptes durchgeführt wird - und seit vielen Jahren auch an ihrer Schule.
Vom 1. September 2024 bis zum 28. Februar 2025 sind über 6720 Kinder und Jugendliche zum Thema »Bis hierhin und nicht weiter!? Grenzen in der Geschichte« auf historische Spurensuche gegangen und haben 2289 Beiträge eingereicht. Damit ist die aktuelle Wettbewerbsrunde die erfolgreichste seit 30 Jahren, heißt es auf der Seite der Stiftung. 19 dieser Beiträge kamen vom LLG, verfasst von 30 Schülern. »An keiner Schule haben sich so viele Schüler beteiligt, wie an unserer«, weiß Christoph Geibel, der den Geschichtswettbewerb bereits vor vielen Jahren am LLG angestoßen hat und als inzwischen pensionierter Geschichtslehrer immer noch begleitet.
Jüngster Schüler in der fünften Klasse
Über eine weitere Besonderheit freut sich Geibel: »Noch nie haben so junge Schüler mitgemacht.« Der jüngste Teilnehmer, Ole Voß, sei gerade erst in die fünfte Klasse gekommen, als er die Infoveranstaltung besuchte, zu der Dr. Steffen Boßhammer zu Beginn des vergangenen Schuljahres Ober- und Unterstufenschüler eingeladen hatte. Daraufhin beschloss er, einen mehrseitigen Bericht über die Gründung des Naturschutzgebietes Hangelstein im Nationalsozialismus zu schreiben.
»Es ist eine Extraleistung, die die Schüler in ihrer Freizeit erbringen«, betont Boßhammer, der als Geschichts-, Politik- und Ethiklehrer den Wettbewerb maßgeblich betreut. In der Endphase gebe es zwar die Möglichkeit, Schüler vom Unterricht freizustellen, nachgeholt werden müsse der Schulstoff aber trotzdem. Jedoch: Die Arbeiten, die die Schüler einreichen, können als »Besondere Leistung« ins Abitur eingebracht werden.
Eine Möglichkeit, von der auch Nele Zeh Gebrauch machen möchte. Die 18-jährige Abiturientin hat sich aufgrund ihres Interesses für Frauengeschichte mit Helga Schmucker befasst, die 1964 an das frisch gegründete Institut für Wirtschaftslehre des Haushalts und Verbrauchsforschung an die Justus-Liebig-Universität (JLU) berufen wurde. Sie war die erste Professorin für Haushaltswissenschaften in der BRD und die zweite JLU-Professorin überhaupt. »Leider kommt Helga Schmucker in den Akten der JLU kaum vor«, bedauert Zeh, die deshalb in den Archiven der Universitäten Gießen und München, wo Schmucker studierte, sowie in Büchern der Stadtbibliothek Marburg recherchiert und zwei ehemalige Doktorandinnen interviewt hat, um mehr über diese Pionierin zu erfahren.
Erste Arbeit über jüdische Anwälte
»Sie hat in einer Zeit studiert, als es noch unüblich war, dass Frauen studieren, war beruflich erfolgreich, hat sich mit ihrem Wissen, ihrer Präsenz und ihrer sprachlichen Überlegenheit immer wieder gegen Männer durchgesetzt - auch bei ihrer Berufung an die JLU«, erzählt Zeh bewundernd. »Sie hat sich von den vielen Widerständen nicht unterkriegen lassen. Die vielen kleinen Schritte, die sie in ihrem Leben gemeistert hat, waren ein großer Schritt für uns Frauen heute.«
Auch Elisabeth Aberschanski sieht man an, wie sehr ihre Arbeit sie berührt hat. Die Neuntklässlerin (14) hat über »Jüdische Rechtsanwälte zwischen Verfolgung, Selbstbehauptung und Emigration« geschrieben - übrigens »das erste Mal, dass sich jemand mit den jüdischen Rechtsanwälten in Gießen zur Zeit des Nationalsozialismus befasst hat« und somit nicht weniger als »ein wichtiger Beitrag zur Stadtgeschichte«, wie Christoph Geibel lobt.
Anhand verschiedener Dokumente wie Briefen, Personalakten und den sogenannten »Wiedergutmachungsakten«, die im Rahmen der Durchführung des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung entstanden sind, versuchte Aberschanski, die Schicksale von insgesamt sechs Rechtsanwälten zu rekapitulieren. »Mich hat berührt, wie die Menschen ihrer Existenz beraubt wurden. Dass sie, obwohl sie seit Generationen in Deutschland gelebt und teilweise sogar im Ersten Weltkrieg gedient haben, plötzlich nicht mehr als Deutsche galten, wie sie alles verloren haben und was das mit ihrer Psyche gemacht hat«, sagt Aberschanski kopfschüttelnd. Und erzählt von einem Anwalt, der sich nach seiner Flucht in die USA das Leben genommen habe, »obwohl er es doch eigentlich geschafft hat, den Nazis zu entkommen«.
Der »Nationalsozialismus« sei für die Schüler immer noch ein sehr beliebtes Forschungsthema, beobachtet Steffen Boßhammer. Auch für Mahdi Hadi und Michael Gleiser war das so. Die beiden Zehntklässler untersuchten Beleidigungen und tätliche Übergriffe auf Gießener Verwaltungsbeamte zwischen den Jahren 1932 und 1941.
Besonders im Gedächtnis bleibt ihnen ein damals junger Mann namens Hans Wohl, der, als Waisenkind aufgewachsen war, bereits früh auffällig und später auf dem Wohlfahrts- sowie dem Arbeitsamt öfter ausfällig wurde. »Da kam es auch mal zu Faustschlägen, und es flogen Dinge durch das Beamtenzimmer«, weiß Boßhammer, der die Arbeit der 14-Jährigen mit einem JLU-Studenten ausgewertet hat.
Natürlich sei es »wichtig, dass man sich, wenn man sich in Not befindet, den Beamten gegenüber immer noch respektvoll verhält«, unterstreicht Gleiser. Interessant sei jedoch, wie sich der Umgang mit Hans Wohl im Nationalsozialismus verändert habe. »Bei anderen, die sich genau so verhalten haben, aber Mitglieder der NSDAP waren, reichte eine Entschuldigung und ihre Fälle wurden zu den Akten gelegt. Bei ihm wurde anders argumentiert und man benutzte auch andere Worte«, berichtet Mahdi anhand der Akten, die er mit Gleiser im Stadtarchiv durchgeblättert hat. »Er passte nicht in die Gesellschaft und wurde von den Nazis systematisch ausgegrenzt.«
Die Arbeiten von Hadi, Gleiser, Aberschanski und Zeh sind, neben drei weiteren Recherchen von LLG-Schülern, sechs von insgesamt 250 Beiträgen, die am kommenden Dienstag in Wiesbaden mit einem Landespreis gewürdigt werden. 250 weitere, davon zwei vom LLG, erhalten einen Förderpreis.